Halacha und Haggada: Formen der jüdischen Literatur

Halacha und Haggada: Formen der jüdischen Literatur
Halacha und Haggada: Formen der jüdischen Literatur
 
In einer klassischen Einleitung zum Talmud aus dem 11. Jahrhundert heißt es: »Haggada ist die Erklärung, die im Talmud über irgendeinen Gegenstand vorkommt, der nicht gesetzlich ist und woraus du nur das zu lernen brauchst, was dir gefällt.« Von der unverbindlichen Haggada wird die hochverbindliche Halacha unterschieden. »Halacha« heißt wörtlich »Gehen«, »Wandel« und meint den von der jüdischen Religion vorgeschriebenen Weg. Der Begriff bezeichnet das ganze wie auch jedes einzelne Religionsgesetz, das das Leben eines Juden von der Wiege bis zur Bahre regeln soll. Als praktische Norm muss die Halacha jederzeit klar entschieden werden. Haggada (aramäisch Agada, »Erzählung«) bezeichnet dagegen den nichtgesetzlichen Überlieferungsstoff, der keiner Entscheidung unterliegt. Die Haggada umfasst, positiv ausgedrückt, eine große Mannigfaltigkeit an verschiedenen Formen und Inhalten, etwa erbauliche Exegesen, Lehrdebatten, moralische Sprüche, poetische Parabeln, biographische Anekdoten, medizinische Rezepte, politische Losungen, mystische Erlebnisse, die ursprünglich in der Predigt oder im Lehrvortrag erzählt wurden.
 
Die Einteilung in Halacha und Haggada entspricht der Unterscheidung von »legalen« und narrativen Textgattungen in der Bibel: Auf der einen Seite die Gesetze und auf der anderen die Erzählungen von der Weltschöpfung, den Erzvätern, dem erwählten Volk; des weiteren die Verheißungen, die Psalmen, die Weisheitssprüche. Für die unterschiedliche Bewertung dieser beiden Gattungen in der Tradition ist die Frage bezeichnend, mit der Raschi seinen klassischen Kommentar zum Pentateuch eröffnet. Warum, so fragt er, beginnt der Pentateuch mit der Weltschöpfung und nicht mit dem 12. Kapitel des Exodus, wo das erste Gesetz verkündet wurde? Der Schöpfungsmythos soll ihm zufolge nicht etwa die theoretische Neugier befriedigen, sondern lediglich eine Rahmenerzählung, eine Präambel des Gesetzes bieten. Das Leben der Erzväter in der Bibel oder der Väter im Talmud interessiert nicht an sich, sondern als lebendige Verkörperung der Norm, als Exempel. Die mittelalterlichen Lehrhäuser legten den Schwerpunkt ihrer Studien auf die Erörterung der Halacha. Im traditionellen Schulbetrieb wird nach wie vor alle Energie in die Halacha investiert, während die Haggada in der Regel kein Gegenstand der Diskussion ist und vernachlässigt wird. Der Gegensatz von Halacha und Haggada wird schon in der rabbinischen Literatur selbst thematisiert und mit milden Formeln ausgeglichen.
 
In einem Midrasch zum Beginn der Zehn Gebote: »Ich bin der Ewige, dein Gott« (2. Mose 20, 2) heißt es: »Gott erschien ihnen mit ernstem Gesicht, mit normalem Gesicht, mit heiterem Gesicht und mit lachendem Gesicht. Mit ernstem Gesicht hinsichtlich der Thora - wenn ein Mensch seinem Sohne die Thora lehrt, muss es mit furchteinflößender Miene geschehen; mit normalem Gesicht hinsichtlich der Mischna, mit heiterem Gesicht hinsichtlich des Talmud, mit lachendem Gesicht hinsichtlich der Haggada.« Man vergleicht auch die Halacha mit dem Grundnahrungsmittel Korn und die Haggada mit dem Wein; die Haggada wird als notwendige volkstümliche Belehrung angesehen und die Halacha als Stoff für Spezialisten.
 
Nichtsdestoweniger wurde die Haggada stets als integraler Bestandteil der jüdischen Überlieferung betrachtet und gegen die Angriffe christlicher Missionare wie jüdischer Aufklärer verteidigt. Die Haggada hat auch bedeutende Fürsprecher gehabt, die ihren Status insgesamt aufwerteten. In seiner Einleitung zur Mischna widmet Maimonides der Halacha im Talmud ein paar Zeilen, während er die Haggadot ausführlich als philosophische Gleichnisse würdigt. Der Hohe Rabbi Löw von Prag, der später selbst zum beliebten Motiv der Legende wurde, hat in einer regelrechten Ehrenrettung der Haggada gegen jüdische Kritiker auch die entlegensten talmudischen Haggadot als Form der jüdischen Weisheit verteidigt. Seit der Emanzipation der Juden von der Halacha im 19. Jahrhundert hat sich das Verhältnis zur Haggada dramatisch geändert. Leopold Zunz stellte in seinem für die Wissenschaft des Judentums bahnbrechenden Werk »Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden« von 1832 die Halacha als »Organ des Gesetzes« der Haggada als »Organ der Freiheit« gegenüber, das wie die Prophetie das warme Herz des Judentums darstellt. Heinrich Heine verglich in seinem späten Gedicht »Jehuda ben Halevy« die Halacha mit einer Fechtschule, im Gegensatz zur Haggada, dem hochfantastischen Garten der Poesie. Im 20. Jahrhundert übernimmt die Haggada anstelle der Halacha vielfach identitätsstiftende Funktionen. So erkennen sich viele säkularisierte Juden in Martin Bubers 1949 erstmals veröffentlichten antihalachischen »Erzählungen der Chassidim« wieder. Die Talmudlektüren von Emmanuel Lévinas kommentieren ausschließlich haggadische Texte.Abraham Joschua Heschel betont in seiner »Philosophie des Judentums« von 1955 trotz geharnischter Angriffe gegen den Halachismus, dass Halacha und Haggada zwei Pole einer für das Judentum konstitutiven Polarität bilden. »Es gibt keine Halacha ohne Haggada und keine Haggada ohne Halacha« - wie es keinen Geist ohne Körper und keinen Körper ohne Geist gebe. Der hebräische Dichter Chajim Nachman Bialik, ein Spross der Talmudakademie und Herausgeber des »Buchs der Haggada«, hat in seinem Essay »Halacha und Haggada« alle Gegenüberstellungen zurückgewiesen. Er spricht von einem vollkommenen Paralellismus von Halacha und Haggada, die das Judentum nur in verschiedenen Aggregatzuständen darstellen. »Die Halacha«, schreibt er, »ist die Kristallisation, das letzte notwendige Ergebnis der Haggada, die Haggada die wieder flüssig gewordene Halacha«. Es ist klar, dass eine Halacha ohne Haggada nur eine Art religiöse Etikette wäre; aber eine Haggada ohne Halacha, ob man sie nun als Prophetie, als Poesie oder als Philosophie versteht, wäre auch nicht mehr als eine unverbindliche Spiritualität.
 
Die Werke der Haggada bestehen aus einer Sammlung von Kommentaren zu Bibelversen. Die Zusammenstellungen der einzelnen Aussprüche sind unsystematisch und geben alle möglichen Aussagen zum Vers wieder. Die an die Haggada anknüpfenden Werke der Exegese, Liturgik, Ethik, Dogmatik, Philosophie und Mystik müssen aus dem haggadischen Angebot auswählen und können sich alle mit gleichem Recht auf die Väter berufen. Das gibt der religiösen Literatur bisweilen das Aussehen von Zitatencollagen; die produktive Leistung besteht hier in der Montage und gegenseitigen Beleuchtung der Aussagen. Eine einheitliche jüdische Theologie ist unter solchen Voraussetzungen nicht zu erwarten, es können sich vielmehr sehr verschiedene Systeme mit gleichem Recht als »die Lehre des Judentums« oder als »die Ethik des Judentums« ausgeben, wobei der Frieden durch den Grundsatz gewahrt bleibt: Man streitet nicht über Haggada.
 
In den Werken der Halacha werden dagegen eindeutige Entscheidungen angestrebt. Der Talmud, die Quelle aller halachischen Entscheidungen, lässt die Entscheidungen selbst offen. Die halachischen Entscheidungen, die dauernd anfallen, werden von Entscheidern gefällt und aus dem Talmud begründet. Die halachischen Anfragen können an jeden entscheidungsbefugten Rabbiner gerichtet werden. Seine Rechtsgutachten sind zunächst nur für den Fragesteller verbindlich; wie weit sie sich als allgemein verbindliche Norm durchsetzen, hängt von seiner Autorität ab. Die rabbinischen Antworten bilden für sich ein riesiges literarisches Korpus, das alle Bereiche des jüdischen Lebens zu allen Zeiten und an allen Orten berührt und heute auch vom historischen Gesichtspunkt ausgewertet wird. Natürlich macht sich von Zeit zu Zeit das Bedürfnis geltend, einen Überblick über die entschiedene Halacha zu gewinnen und in einem Kodex zusammenzufassen. Vier umfassende Gesetzeskodifikationen haben sich durchgesetzt und gelten als »Säulen der Lehre«: das »Buch der Halachot« von Rabbi Isaak Alfasi aus dem 11. Jahrhundert, die »Mischne Thora«, die »Wiederholung der Thora«, von Moses Maimonides aus dem 12. Jahrhundert, die »Arba Turim«, die »Vier Reihen«, von Jakob ben Ascher aus dem beginnenden 14. Jahrhundert und der »Schulchan Aruch«, der »Gedeckte Tisch«, von Josef Karo aus dem 16. Jahrhundert. Letzterer ist bis heute grundlegend. Unter den Kodifikatoren hat vor allem Maimonides die Absicht verfolgt, mit den 14 Büchern seiner »Mischne Thora« alle talmudischen und nachtalmudischen Kontroversen endgültig zu entscheiden und eine Art jüdischen »Codex Iuris« zu schaffen. Die Diskussion über die Quellen und die Geltung der Gesetze hat aber immer wieder eine derartige endgültige Fassung des jüdischen Religionsgesetzes verhindert. So bleibt die jüdische Literatur sowohl im Bereich der Haggada wie auch der Halacha stets offen und lebendig.
 
Dr. Daniel Krochmalnik
 
 
Stemberger, Günter: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977.

Universal-Lexikon. 2012.

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